Claas Gutsche

Architekturen der Erinnerung

Anna Wesle

"Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten." (Walter Benjamin, Das Passagen-Werk)

Der in Berlin lebende, in Ostdeutschland geborene Druckgrafiker Claas Gutsche beschäftigt sich in seinen groß- und kleinformatigen Linolschnitten auf feinem Japanpapier unter anderem mit den Spuren der deutsch-deutschen Vergangenheit und damit im weiteren Sinne mit den Themen kollektives Gedächtnis und Erinnerungskultur. Aufgewachsen in Blankenburg im Harz erlebte er im Alter von 7 Jahren die Wende und lernte so sowohl noch Ost- als auch Gesamtdeutschland kennen. Seine Grafik zeigt oft stimmungsschwangere Orte, deren geschichtsträchtige Bedeutung sich dem Betrachter erst mit zusätzlicher Information, etwa durch den Bildtitel, erschließt. Assoziationen an die NS-Zeit, die Deutsche Demokratische Republik oder jüngste beunruhigende Nachrichtenmeldungen erwachen im Betrachter. Die technisch versiert ausgeführten Blätter werden monochrom oder mehrfarbig gedruckt, es entstehen auch Reduktionsschnitte.

Für die Ausstellung im Museum Franz Gertsch und diesen sie begleitenden Katalog wurden neuere Werke aus den Jahren 2012 bis 2016 ausgewählt, dabei erlebt ein monumentaler Linolschnitt seine Premiere, der auch eine Erweiterung des thematischen Spektrums im Oeuvre des Künstlers markiert. Grundsätzlich haben wir es hier mit zwei eng miteinander verzahnten Werkgruppen zu tun: Einerseits werden Bauwerke, Denkmäler und Kunst im öffentlichen Raum in den Blick genommen, die von vergangenen Zeiten zeugen, andererseits befasst sich Claas Gutsche in Close-Ups mit Aspekten der Kunst am Bau der ehemaligen DDR.

Geprägt von einer frühen Kindheit in der Deutschen Demokratischen Republik erlebte der Künstler die Auflösung des sozialistischen Staates und der dahinter stehenden Weltanschauung ebenso mit wie den alle Lebensbereiche erfassenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Wandel, den dieser mit sich brachte. Als Vertreter der sogenannten „dritten Generation Ost‘‘, der zwischen 1975 und 1985 geborenen „Wendekinder‘‘, reflektiert und hinterfragt er rund 25 Jahre nach der Wiedervereinigung seine sichtbare Umwelt und das Erbe der DDR mit geschärften Sinnen. Er betrachtet die Welt als Druckgrafiker und sucht nach den historisch-ästhetischen Gesichtspunkten; die Verbindung von Architektur, Kunst (am Bau) und Natur kennzeichnet sein Werk. Dabei klingt die Bedeutung der Ästhetik gestern, heute und in Bezug auf uns als Betrachter stets mit. Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa die ersten Kunstgewerbemuseen eröffnet wurden, ging es nicht zuletzt um die exemplarische Ausstellung „guter‘‘ Vorbilder in Kunst und Handwerk.

Diskussionen des „guten Geschmacks‘‘, zu ästhetischen Qualitätsmerkmalen und Urteilen wurden angestoßen, die sich bis weit ins das 20. Jahrhundert fortsetzten und noch Werkbund und Bauhaus stark prägten. In unserer heutigen stilpluralistischen Zeit haben sich solche „klaren‘‘ Bewertungskriterien gewandelt und vielleicht sogar überlebt, alles scheint möglich.

Die geometrisch-abstrakten Elemente der Kunst am Bau bzw. der Kunst im öffentlichen Raum, die Claas Gutsche in Werken wie „Concrete‘‘ (2014) oder „Die Gestaltung‘‘ (2014) bzw. in „Der Platz‘‘ (2015) festhält, spielten in der Zeit ihrer Entstehung eine sowohl ästhetische als auch erziehungspolitische Rolle -- ein Aspekt, der langsam in Vergessenheit gerät. Der Bildhauer Harry Müller gestaltete in Leipzig etwa skulpturale Fassaden aus gegossenen Betonmodulen oder Aluminium, die einerseits die erreichte Höhe der technischen Entwicklung demonstrieren andererseits aber auch Modernität in künstlerischer Hinsicht signalisieren sollten. Für den Druckgrafiker Claas Gutsche sind neben dem historischen Bewusstsein um die Hintergründe vor allem aber auch die geometrischen Formen der Betonfassaden reizvoll, deren Schattenspiel in mehreren Grautönen er in aufwändigen Reduktionsschnitten nachvollzieht. Farbige Kachelmosaike wurden in sozialistischen Ländern im Sinne einer „Volksbekunstung‘‘ an ansonsten eher tristen Plattenbauten angebracht um das Wohngebiet aufzulockern und zu verschönern. Auch sie spielen in Farblinolschnitten Gutsches eine Rolle - nach eigenen Fotografien setzt er reale Mosaike in Arbeiten um, die beinahe wie pure geometrische Abstraktionen wirken. Oft werden diese Darstellungen um ein Stück gewachsene Natur, zum Beispiel einen Baum oder Ast ergänzt -- die Künstlichkeit der Oberflächen wird durch den Kontrast mit der Vegetation betont, die das abstrakte Element als Teil einer Mauer oder Wand verortet. Claas Gutsches Farblinolschnitt „Der Platz‘‘ zeigt Fritz Kühns „Schwebenden Ring‘‘ (1967) des Springbrunnens am Strausberger Platz in Berlin, eine Auftragsarbeit des Ost-Berliner Magistrats. Die Elemente des Brunnens, die in der Realität aus plastisch getriebenem, teilvergoldetem Kupfer in Diamantquaderung bestehen, nähern sich in Gutsches Darstellung den Betonelementen der Wandfassaden seiner anderen Werke an. Das Wasser wird vom Künstler nicht thematisiert, die Brunnenplastik erscheint vor der blockhaften architektonischen Kulisse des städtischen Hintergrunds. Der modernistische Entwurf einer zukunftsgerichteten Gesellschaft wirkt heute veraltet und eher künstlich -- im Linolschnitt erhält er in der Reduktion auf die Komposition etwas von seiner ringhaften Ur-Kraft zurück.

Mit „Erasure‘‘ (2013) hat der Künstler eines der bekanntesten Bauwerke der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik aufgegriffen, den heute nicht mehr erhaltenen Palast der Republik in Berlin. Erbaut als öffentliches Kulturhaus von 1973 bis 1976 wurde er im Volksmund ironisch „Erichs Lampenladen‘‘ genannt, dies eine Anspielung auf den Staats- und Parteichef Erich Honecker sowie die in Foyer und Treppenhaus zahlreich installierten Kugelleuchten, die auch in Gutsches Arbeit eine prominente Rolle spielen. Ins Auge sticht hier auch das, was nicht mehr da ist und worauf der Titel des Werkes anspielt: nämlich das Emblem von Hammer und Zirkel, das sich eigentlich in der Rundung des stilisierten Ährenkranzes links im Bild befinden sollte. In der Wendezeit war entschieden worden, dass in der ersten Juniwoche des Jahres 1990 alle DDR-Staatswappen in und an öffentlichen Gebäuden entfernt werden sollten -- man könnte es bei Gutsche (der hier verschiedene mediale Vorlagen kombiniert hat) jedoch auch als Hinweis auf den kompletten Abriss des Gebäudes verstehen, der nach einem langen Prozess schließlich bis 2008 erfolgt war.

Wie oben bereits angedeutet, war unter dem sozialistischen Regime der Übergang von der Kunst am Bau mit ästhetischem Erziehungsanspruch zur Kunst (am Bau) mit ideologischem Auftrag fließend. Die damalige Gesetzgebung sah die Verbindung von bildender Kunst und Architektur in einem gewissen Maße vor, dabei war die Stilrichtung des sozialistischen Realismus vorgegeben. Claas Gutsches großformatiger Linolschnitt „Der neue Mensch‘‘ (2013) mit seinem programmatischen Titel zeigt denn auch das Fassadenmosaik des systemkonformen Staatskünstlers Walter Womacka am ehemaligen Magnet-Kaufhaus in Eisenhüttenstadt, einer an der Grenze zu Polen gelegenen, in den 1950er Jahren entstandenen sozialistischen Planstadt. Die bildliche Darstellung für die Menschen dieser Industriestadt zeigt in einer Mischung von sozialistischem Realismus mit Anklängen an Picasso und die klassische Moderne eine Arbeiterhand, die sich zu einer fliegenden Taube, Symbol für den Frieden, streckt. Im Ärmel befinden sich fünf Arbeiter, über der Taube sind die Flaggen der Sowjetunion, von Polen und der Deutschen Demokratischen Republik zu sehen. Im Linolschnitt wurde das farbige Mosaik in das Schwarz-Weiß der Grafik übertragen, ein winterlicher Baum betont die eher triste Stimmung. Die Utopie des Menschen in einer freien neuen Welt ohne Klassenunterschiede wird hier vom Künstler dem grauen Alltag in einer gescheiterten Stadt gegenübergestellt. Im Hintergrund schwingt unser Wissen über die repressive Unterdrückung und Überwachung des Volkes in der ehemaligen DDR mit.

Auch „Die Idee‘‘ (2015) spielt auf das ideologische Gedankengut der sozialistischen Länder an, das durch Kunst am Bau und Denkmäler sowie durch zahlreiche andere Maßnahmen transportiert wurde. Der Linolschnitt zeigt ein überwuchertes und verfallendes Lenin-Denkmal in Form einer sowjetischen Fahne auf abgetrepptem Sockel auf dem ehemaligen Flugplatz Brandis-Waldpolenz in Sachsen -- bei Gustche sieht man in betörender grafischer Schönheit, wie innerhalb kürzester Zeit eine Betonplastik des gefeierten Personenkultes zur Bedeutungslosigkeit verkommt. Im Gegensatz zu vielen anderen Lenin-Denkmälern, Büsten und Standbildern, wurde dieses nicht abgebaut, zerschlagen, eingeschmolzen, versenkt, vergraben und/oder recycelt, es wurde zum vergessenen Relikt einer anderen Zeit. Die futuristische Anmutung des Denkmals und der in die Zukunft gerichtete visionäre Blick Lenins kontrastieren mit der Umgebung; es wird zu einem Sinnbild des Wandels und des Bedeutungsverlustes überholter Ideen und Ideologien. Auch die grafischen Arbeiten „Monument‘‘ (2012), „Relict (dusk version)‘‘ (2015) und „border‘‘ (2013) zeigen solche Zeitzeugen: Das erstgenannte Werk ein Mahnmal (1960) aus sächsischem Sandstein auf einer der größten Kriegsgräberstätten Deutschlands, dem Waldfriedhof Halbe, das zweite der letzte erhaltene massive Wachturm mit Schießscharten (ab 1966) der Deutschen Demokratischen Republik an der Berliner Grenze, ein „Rundblickbeobachtungsturm‘‘. Diese Denkmale können als Architekturen der Erinnerung betrachtet werden. Als Erinnerungsorte, die unser kollektives Gedächtnis stützen und in der vermittelnden Verbreitung der Massenmedien aber auch in der Kunst von Claas Gutsche ikonisiert werden. Auffallend ist hier, dass es sich bei beiden Arbeiten um nächtliche Szenen handelt. In einer idyllischen, beinah romantisch anmutenden Umgebung erscheint das Relikt eingebettet in die Natur. Das Schreckliche der Bedeutung der Orte (die vielen Toten und physisch oder psychisch Verletzten) wird im Schönen aufgefangen -- man fühlt sich an Edmund Burkes Konzept des Erhabenen und die englische Romantik erinnert. Claas Gutsche überführt das „Schauerlich-Schöne‘‘ des 18./19. in das 20./21. Jahrhundert -- die Ruinen haben ihre angsteinflößende Macht verloren und dienen nur noch als Mahnmale der Erinnerung. Die Arbeit „border‘‘ verknüpft Stacheldraht und Pflanzenteile auf beinahe poetische Weise und lässt auf ein „Nach der Zeit der Grenze‘‘ hoffen.

Auch mit dem aktuellsten Werk in dieser Ausstellung und Publikation, „Leak‘‘ (2016), wendet sich der Künstler grafisch einer Anlage zu, die ihre Funktion und Bedeutung verloren hat. Er erweitert sein thematisches Spektrum und bearbeitet hier die ehemalige Flugüberwachungs- und Abhörstation der US-Amerikaner auf dem Berliner Teufelsberg aus der Zeit des Kalten Krieges. Seit 1991 sind die Gebäude und die markanten Antennenkuppeln im Verfall begriffen. Mit dem Titel der Arbeit verweist Claas Gutsche jedoch auf uns zeitlich näherliegende Ereignisse, auf das Durchsickern bzw. die inoffizielle Veröffentlichung von Informationen. In der heutigen Zeit der Massenmedien, von Lauschangriffen, Whistleblowern und Facebook erhält das Werk einerseits eine politische, jedoch auch eine ganz persönliche Bedeutung. Dieses Thema betrifft uns alle, die wir täglich die modernen Kommunikationsmittel nutzen und unsere Daten in die weite Welt hinaussenden.

Der Künstler Claas Gutsche bewegt sich mit seinem Linolschnitt zwischen den Polen von Nähe und Ferne, Feinheit und Monumentalität, von Heimat/DDR und dem großen Ganzen. Wagen wir einen Blick in die Zukunft? Was wird wohl aus unseren Visionen/Ideologien werden? Was macht man uns glauben, welche Ästhetik wiegt uns in Sicherheit? Was macht unser Leben ästhetisch lebenswert, wer sorgt für unsere ästhetische Erziehung? Welche Zeichen hinterlassen wir in der (virtuellen) Welt, was sind unsere Relikte?

(2016)


Es gibt keine absolute Wahrheit

Christoph Tannert

Claas Gutsche betreibt Geschichtsarbeit. Er beschäftigt sich mit der deutschen Vergangenheit – erst mit Aspekten der NS-Vergangenheit, nun mit Architektur und Denkmalsgeschichte der DDR. Dass er dabei die Technik des Linolschnitts nutzt, der zu DDR-Zeiten ein beliebtes Genre des sozialistischen „Volkskunstschaffens“, also der Laienzirkel-Kultur war, hat den Charakter einer kritischen Rehabilitation und impliziert Erinnerung und Überwindung gleichermaßen.

Der Künstler war sieben Jahre alt zur Zeit der Wende. Wenn er von heute aus auf DDR-Phänomene schaut, dann, weil er nach Spurenelementen des sozialistischen Gewordenseins in eigenen familiären und sozialhistorischen Zusammenhängen fahndet.

Mit seinem Ausstellungstitel „Changing Truth“ deutet er an, dass die Wahrheit ein Konstrukt ist und die Suche nach ihr ein kommunikativer, aber steiniger Prozess.

Die politischen Ereignisse der Gegenwart zeigen einen eklatanten Mangel an Vergangenheitsbewältigung sowohl nach dem Fall der Berliner Mauer als auch nach dem Untergang der UdSSR. Immer mehr Menschen schauen grundsätzlich nostalgisch-glorifizierend auf die eigene Geschichte zurück. Meinungsumfragen zeigen, dass eine Figur wie Stalin in Russland ein wachsendes Standing genießt. Einer Mehrheit der Russen ist offenbar egal, dass Stalin einer der schlimmsten Massenmörder der Weltgeschichte war und man vom in der DDR gepriesenen Marxismus-Leninismus ebenfalls nicht gerade behaupten kann, dass diese Ideologie in Verknüpfung mit einem totalitären Polizei- und Überwachungsstaat ein Segen für die Länder Osteuropas, inklusive der DDR, war.

Gutsche schenkt uns den Erkenntnisgewinn, dass wir uns nicht in Phantasiefiguren von Widerstand und Opfertum spiegeln sollten, sondern dass es vielmehr, soweit es uns betrifft, um ein vielschichtiges Verhalten der Anpassung zwischen Mitmachen und Widersprechen geht.

Gutsches großformatige Blätter lassen uns tiefer schauen, damit wir uns eine Erfahrung vergegenwärtigen, die vom üblichen „DDR=böse“-Getöse verdeckt wird. Um es sehr schlicht zu sagen: Es ist die kollektive Erfahrung, dass eine Sache, die sich für Viele eigentlich nicht schlecht anfühlte, schrecklich ausging.

Die geläufige Vergangenheitsbewältigung erzählt jedoch immer nur vom zweiten Teil. Sie umgeht in der Regel die Tatsache, dass viele DDR-Bürger den ihnen übergestülpten Funktionärssozialismus als Sicherheit gewährende Rundumversorgung erlebten. Dass mit den Jahren die Träume von der Überlegenheit des sozialistischen Menschen ebenso platzten wie alle Wirtschaftspläne, ließ einen emotionalen Grauschleier über das Land sinken, den Claas Gutsche mit dokumentarischer Schärfe künstlerisch adäquat markiert hat.

Das angetreppte Beton-Denkmal in Fahnen-Optik im Ehrenhain des ehemaligen sowjetischen Militärflughafens von Brandis-Waldpolenz („Die Idee“, 2014) zeigt, dass 25 Jahre Nachwendezeit über die ideologische Floskel eines ‚Lenin mit Zukunftsblick’ hinweggefegt sind und alle Elemente von Andächtigkeit ausgetrieben haben.

In „Der neue Mensch“ (2014) rückt Gutsche eine vom DDR-Künstler Walter Womacka unerschüttert zukunftsfroh gestaltete Fassade des Magnet-Kaufhauses in Eisenhüttenstadt ins Zentrum der Betrachtung. Pseudoreligiosität, ein Tauben-Zitat nach Picasso und die in den Binnenformen des Mosaikbildes aufgehobenen dekorativen Elemente entzaubert Gutsche durch das strenge Schwarz-Weiß seiner grafischen Übertragung.

Allen Progressionsidealen zum Trotz spricht aus vielen staatlichen Kunst-am-Bau-Projekten der DDR, nicht zuletzt dem Design des mittlerweile abgerissenen „Palastes der Republik“ in Ost-Berlin der Vorsatz, mit dem Pathos der gemütlichen Bekunstung beim DDR-Bürger volkseigenes Wohlgefühl zu verbreiten. Gutsche hat seine ästhetische Position im Hinblick auf den utopischen Endpunkt der DDR fixiert. So gelingt es ihm, den Betrachter über Wert und Unwert des ästhetischen Erziehungsprogramms selbst entscheiden zu lassen. 

Im Blick aus dem Inneren von „Erichs Lampenladen“ auf das ausgeschlagene DDR-Emblem („Erasure“, 2014) schwingt die Erinnerung daran mit, wie es sich angefühlt hat, in der sozialistischen Moderne zwischen den Mühlsteinen Versprechung und Vertuschung gelebt, und diese Schizophrenie sogar unter Anspannung aller Kräfte vorangetrieben, sie dennoch aber nicht wirklich als solche wahrgenommen zu haben. Psychologisch gesehen, muss eine so dramatische Fehlleistung das Vertrauen in die eigene Emotion brechen. Mehr noch, sie bricht das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung: Man hatte doch im Umfeld der vermeintlich besseren Deutschland-Hälfte angeblich nichts gesehen und muss sich jetzt vorhalten lassen, dass in Wahrheit fast alles sichtbar war und dass, wer denn hätte tiefer schauen wollen, die Lügen und Ungerechtigkeiten der „Diktatur des Proletariats“ mit bloßem Auge hätte erkennen können. 

Soweit ist es schon gekommen ...

(September 2014)


Eine Pathologie des Nachtstücks – Anmerkungen zu den Arbeiten von Claas Gutsche

Dr. Ralf Hartmann

Die Tradition des Nachstücks reicht weit zurück in die europäische Kunstgeschichte. Aber erst an der Wende vom 18. zum19. Jahrhundert erweiterten Künstler wie Francisco de Goya und Johann Heinrich Füssli, romantische Schriftsteller wie E.T.A. Hofmann, Novalis und Freiherr von Eichendorff jenes Chiaroscuro oder Notturno um seine unheimlichen Qualitäten und setzten es in bewussten Kontrast zum rationalen Licht der Aufklärung. Die bildnerischen und literarischen Erkundungsgänge in die Nacht gebaren groteske Ungeheuer, sie führten in die Abgründe der menschlichen Existenz und offenbarten gleichermaßen die dunklen Seiten des Subjekts mit seinen Projektionen und Obsessionen wie sie die finsteren Gesellschaftszustände an der Schwelle zur Moderne geißelten. Gleichzeitig avancierte die Nacht zum leidenschaftlichen Ort einer weltentfremdeten Sehnsucht und unerfüllter Liebe. 

Der junge Künstler Claas Gutsche hat sich dieses Genres angenommen und die romantische Geisterseligkeit, das raffinierte Spiel mit dem Sichtbaren und Unsichtbaren in die unmittelbare Gegenwart der zeitgenössischen Mediengesellschaft und ihrer bildlichen Ungeheuerlichkeiten überführt. Seine großformatigen Linolschnitte, die nicht selten den Charakter von Nachstücken annehmen, sind subtile Beobachtungen am Rande des Sagbaren. Sie setzen die Orte des Unsagbaren bzw. Unsäglichen in eine faszinierende Szenerie des Gegenlichts, deren Prospekte ebenso Abbilder von Orten des Schreckens wie Close-Ups auf das Periphere der menschlichen Kultursphäre sein können. In ihrer ästhetischen Anmutung verschmelzen fotografischer Charakter und das harte grafische Schwarz-Weiß zu subtilen Nuancierungen zwischen Tag und Nacht.

Jenes schillernde Chiaroscuro, aus dessen dunkler Tiefe sich lichte Gestalten dämonisch hervorschälen, wendet Gutsche auf eine durch und durch ausgeleuchtete Gegenwart an, die sich der romantischen Bildkonventionen rückversichern muss, um die gnadenlose Dämonie der medialen Bildwirklichkeiten auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. 

Denn was sind es für Szenerien, die Claas Gutsche in seinen groß angelegten Linolschnitten bildwürdig werden lässt? Der Künstler wirft gewissermaßen einen Schatten über die omnipräsenten Orte des Alltags, über verwahrloste Vorstädte und anonyme Peripherien, über idyllische Kleinbürgersiedlungen und märchenhafte Fachwerksilhouetten. Mit selektiver Wahrnehmung bleibt er an den Inkunabeln einer spannungsvollen Polarität hängen, die - im medialen Licht betrachtet - unbegrenzte Eindeutigkeit zu haben scheint. Alles ist bekannt, alles ist gezeigt, alles ist sichtbar - und doch destilliert Gutsche in seinen Arbeiten genau jene neuralgischen Punkte, an denen aus dem Licht der Medien die Dämmerung des Unheimlichen ihre dunklen Schatten wirft. Denn was allein ist unheimlicher als das Sichtbare? 

Es ist die Ahnung, jene intuitive und anti-rationale Erkenntnis des Instinkts, die eintritt, wenn das Gegenwärtige – beispielsweise ein Bild - mit dem subjektiv Erfahrenen in Abgleich gebracht wird. Es ist das Zufällige eines Ereignisses, das plötzlich seinen Kontext in ein anderes Licht setzt, es aus der Helligkeit des Wissens in die Düsternis einer verschleierten Ahnung überführt. 

Und so wirft auch das Bild eines alten Fachwerkhauses einen ersten fahlen Schatten auf dessen Sichtbarkeit in den Medien der letzten Jahre, konnotiert der Titel „Hunger“ das Gebäude mit einem Ereignis, dessen öffentliche Attraktion schon längst wieder verblasst. Ein anderer Linolschnitt leitet den Blick in eine zwischen Kiefern und Birken liegende Einfamilienhaussiedlung, deren dramatisch überschattete Architektur ebenso wie in den 1950er Jahren auch in den späten 1930ern entstanden sein könnte. Man fragt sich unweigerlich, wie eine solch scheinbar banale Szenerie bildwürdig werden konnte und was einen jungen Künstler dazu veranlasst hat, sie im Format von 350 x  200 cm in Linoleum zu schneiden. Wieder ein anderes Blatt zeigt einen modernistischen Plattenbau in Frontalansicht, dessen obere Etage hell erleuchtet ist und das gesamte Gebäude in ein hartes Gegenlicht setzt. 

Claas Gutsche sucht nach solchen Architekturbildern, er fokussiert seine künstlerische Aufmerksamkeit auf Orte, deren Menschenleere vorangegangene Ereignisse memorieren lässt, die eine vage Ahnung von etwas hervorrufen, das stattgefunden hat bzw. stattgefunden haben könnte. Seine Lokalitäten extrahieren das Zufällige, suchen das entscheidende Ereignis hinter einer Fassade scheinbarer Harmlosigkeit. Solche Ereignisse können reale Gewissheit annehmen, sie können aber genau so lediglich ein Feld von Möglichkeiten eröffnen. Ist es in der Arbeit „Hunger“ das Wissen um den Kannibalen von Rothenburg oder beim Blick in die Einfamilienhaussiedlung die genaue Kenntnis ihrer früheren nationalsozialistischen Bewohner, so bleibt in der Ansicht des Plattenbaus offen, ob sich etwas ereignet hat und - wenn ja - was. 

Claas Gutsche verarbeitet in seinen Linolschnitten Motive, die reduzierter nicht sein könnten. Sie wirken auf uns wie verlassene Kulissen früherer Filmsets. In Unkenntnis ihrer Geschichte bleiben sie zunächst leere Hüllen, unberedte Platzhalter ihrer selbst. Im Kontext der medialen Öffentlichkeit aber, in der ausgeleuchteten und grenzenlosen Sichtbarkeit unserer modernen Informationsgesellschaft avancieren sie zu beinahe romantischen Metaphern, die der zeitgenössischen Rationalität den dunklen Spiegel der subjektiven Erfahrung entgegen halten. Solchermaßen einen Abgleich zwischen Öffentlichkeit und Subjektivität fordernd, stellen Gutsches Linolschnitte an der harten Schnittstelle zwischen Licht und Dunkelheit zeitgenössische Äquivalente zu Goyas „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ oder Füsslis „Der Nachtmahr“ dar. 


 (Please ask for English translation)

 Ausgewählte Presseartikel:

ART Magazin 2016

 

Berliner Zeitung 18.09.2014

 

Berliner Zeitung 10.11.2013

Berliner Zeitung 10.11.2013

 

Berliner Zeitung 12.07.2012

 

ARTFORUM November 2011